Kongo: Das kranke Herz Afrikas
Der unermessliche Reichtum an Bodenschätzen ist ein Fluch für den Kongo. Korrupte Eliten stopfen sich die Taschen voll, die Bevölkerung muss darben. 13 Millionen Menschen hungern, darunter mehr als vier Millionen Kleinkinder. Die Caritas versucht zu helfen. Besuch in einem vergessenen Land der Seuchen, Kriege und Chancen.
Chaos in Kinshasa. Auf dem Boulevard, der vom Flughafen ins Herz der kongolesischen Hauptstadt führt, geht es zu wie auf einem Wimmelbild. Heerscharen gelber Taxi-Minivans, zerbeulter Toyotas und schwer beladener Lastwagen, auf denen sich meterhoch Säcke mit Brennholz und Gemüse türmen, sind hoffnungslos ineinander verkeilt. Dazwischen schlängeln sich Motorradfahrer mit bis zu drei Passagieren am Rücksitz artistisch durch.
Karawanen von Fußgängern und hektischen Straßenverkäufern ziehen vorbei. Mittendrin ein Kleinbus mit einer Delegation der Caritas unter Führung von Präsident Michael Landau und österreichischen Journalisten. „Lasst die Fenster zu und die Handys unten“, empfiehlt Andrea Fellner, die seit Jahren für die Caritas Oberösterreich die Projekte im Kongo betreut.
Geschrei, Gehupe, afrikanische Rhythmen – unablässig entlädt sich eine gigantische Lärmwolke über diesem Elf-Millionen-Einwohner-Moloch, der im Ranking der lebenswertesten Städte der Welt verlässlich auf den hintersten Plätzen zu finden ist.
Beißender schwarzer Rauch steigt von den Gehsteigen auf, von verkohlten Grillrosten und brennenden Müllhalden. Legionen fliegender Händler versuchen ihr Glück. Sie bieten Erdnüsse, Orangen und Getränke an, balancieren Plastikkörbe mit Baguettes auf ihren Köpfen. Jeder will etwas verkaufen, um ein paar Lappen kongolesischer Francs nach Hause zu bringen. Manche breiten ihr Sortiment unter klapprigen Holzständen oder alten Sonnenschirmen aus, andere auf Pappkartons auf dem Boden. Ananas, Kinderschuhe und Särge. Man kann alles erwerben auf Kinshasas Straßen.
Es ist ein täglicher Kampf ums Überleben. Jeden Morgen wachen in Kinshasa Hunderttausende auf und wissen nicht, wie sie bis zum Abend ihre Bäuche füllen sollen. Die Demokratische Republik Kongo, 80-mal so groß wie die frühere Kolonialmacht Belgien, ist extrem reich an Bodenschätzen, fruchtbar wie der Garten Eden. Trotzdem regiert Armut. Denn es ist ein Land der Kriege, der Seuchen und Korruption, ausgeblutet und geschunden von habgierigen Eliten, Warlords und internationalen Konzernen.
Rohstoffe für die Welt.
Ihnen kommen die Milliarden zugute, die der Abbau von Kupfer, Coltan, Wolfram, Zinn und Gold aus Kongos Minen abwirft, nicht dem Volk. Ein Rohstoff wie Kobalt, der in Batterien von Smartphones und Laptops steckt, treibt weltweit die moderne Kommunikation an. Fast zwei Drittel der Förderung stammen aus südkongolesischer Erde, geschürft oft von Kinderhänden, wie Amnesty International anprangert.
Die Bodenschätze lasten wie ein Fluch auf dem Kongo. Unter der grausamen Herrschaft des unersättlichen belgischen Königs Leopold II. (1865–1909) war es Kautschuk; nun sind es andere Stoffe, die Raubritter locken.
Geschätzte 86 Millionen Einwohner hat das Riesenreich an Afrikas Äquator. Der Weltbank zufolge leben 66 Millionen von ihnen von weniger als zwei Dollars pro Tag, 13 Millionen ringen mit „schwerer Ernährungsunsicherheit“, wie es im Jargon der UNO heißt, sie haben also jeden Tag zu wenig zu essen. Nur in einem Staat der Welt ist die Situation dramatischer: im Jemen.
Die Kleinsten trifft es am härtesten. Im Kongo sind 5,7 Millionen Kinder unter fünf Jahren chronisch unterernährt – fast die Hälfte der Altersgruppe. Die Folgen sind fatal. Wer als Kind längere Zeit hungern muss, kann körperlich und geistig unterentwickelt bleiben. „Hunger ist kein Schicksal. Hunger ist ein Skandal. Wir dürfen uns damit nicht abfinden“, wird Caritas-Präsident Landau am Ende der Reise sagen.
Aufgepäppelt unterm Moskitonetz.
In Malweka, einem Armenviertel Kinshasas, bekämpfen Don-Bosco-Schwestern mit Hilfe der Caritas den Kinderhunger. Vor einer Woche brachte Christèle ihren 21-monatigen Buben ins Gesundheitszentrum. Er wog bloß fünf Kilogramm statt siebeneinhalb, seine Oberärmchen waren viel zu dünn. Der Arzt wies ihn in die Bettenstation ein, einen grün getünchten Raum mit zehn Liegen unter Moskitonetzen. Mittlerweile ist der kleine Mann auf dem Weg der Besserung, aufgepäppelt mit Milch. Bald wird er mit seiner zierlichen Mutter nur noch ein Mal pro Woche kommen müssen, um die Siebentagesration eines nahrhaften Breis aus Öl, Zucker, Nüssen und Soja abzuholen.
Insgesamt vier Don-Bosco-Gesundheitszentren greift die Caritas in Kinshasa unter die Arme. Damit ist die Ernährung von insgesamt 2000 Kindern gesichert. 36 Euro betragen die Jahreskosten für eine Breiration pro Kind. Mehr nicht.
„Mein Leben ist sehr schwierig, ich habe keine Arbeit“, sagt Christèle, die 27-jährige Mutter des unterernährten Knaben. Sie hat noch zwei andere Kinder, eines mit acht und eines mit vier Jahren. Ihr Mann ist vor einem halben Jahr bei einem Unfall gestorben. Er war Soldat, erhielt aber keinen Sold. Christèle hätte Anspruch auf eine Witwenrente im Umfang von zwölf Dollar pro Monat, doch dafür müsste sie einen Antrag stellen. Für den Amtsweg jedoch bräuchte sie erst Geld, das sie nicht hat. Wie soll das alles weitergehen? Sie hat keinen Schulabschluss und keine Berufsausbildung. Ihren Eltern fehlten die Mittel dafür.
Im Kongo muss man für alles zahlen: für die Schule, für die Lehre, für Spitalsbesuche. Der Staat ist bloß ein Wort im Kongo, es gibt keinen Staat, nur bestechliche Politiker, Richter, Beamte und Polizisten. Irgendwo hält immer einer die Hand auf.
50 bis 200 Euro beträgt das Schulgeld im Jahr. Eine arme Familie verdient im Monat 25 bis 50 Euro. So verspielt dieses Land seine Zukunft. Um sechs Prozent ist die Wirtschaft zuletzt gewachsen. Das reicht nicht angesichts der demografischen Entwicklung. Jede Frau gebärt im Schnitt 5,9 Kinder.

Die aus Oberösterreich stammende Don Bosco Schwester Hildegard Litzlhammer ist seit 36 Jahren in der Demokratischen Republik Kongo engagiert. Im Interview erzählt sie vom Alltag in einem der ärmsten Länder der Welt.
Schwester Hildegard, Sie leben seit mehr als 35 Jahren im Kongo. Wie hat sich das Land verändert?
Die Menschen hier zählen nach wie vor zu den ärmsten der Welt. Das hat sich nicht verändert. Mein Eindruck ist, dass sich die Situation Kinshasa ein wenig gebessert hat. Im Osten des Landes ist es aber nach wie vor sehr schlimm. Mit den vielen neuen Kämpfen und den neu ausbrechenden Krankheiten wird sich die Lage aber auch in der Hauptstadt wieder verschlechtern.
Wie kann es im Land zu einer besseren Situation der Menschen kommen?
Ich kann es nur immer wiederholen: Bildung, Bildung, Bildung. Es gibt sehr viele Analphabeten. Über die Hälfte der Bevölkerung kann nicht lesen und schreiben. Sicher ist für jemanden, der Hunger hat, die Bildung zweitrangig. Aber sie ist wichtig, um aus dieser Armutsspirale herauszukommen. Der Staat hat kein Geld, um für die Schulbildung der Kinder aufzukommen, die Familien erst recht nicht.
Seit fast zehn Jahren betreiben wir eine Grundschule für 1000 Kinder in einem der ärmsten Stadtviertel von Kinshasa. Das Herzstück ist hier die „Nachholschule‟ für ungefähr 200 Mädchen im Alter von elf bis 20 Jahren. Diese Mädchen waren noch nie in einer Schule und haben so gut wie keine Zukunftschancen. Bei uns können sie die Grundschule, die sechs Jahre dauern würde, in drei Jahren nachholen und mit einer staatlich anerkannten Prüfung abschließen. Danach können sie in eine weiterführende Schule gehen oder bei uns in die Berufsschule wechseln.
Die meisten unserer Mädchen finden Arbeit. Das zeigt mir, wie notwendig Bildung für die Menschen ist.
Wir hören in aufrüttelnden Berichten von vielen Missständen im Land. Wie erlebst Du das in Deinem Alltag in den Projekten?
Es kommt zu Lieferengpässen bei Nahrung, Wasser und Strom. Aktuell zum Beispiel bekommen wir kein Wasser mehr von den Stadtwerken. Das ist jetzt seit Mai so. Wir müssen jeden Tag für 1000 Kinder Wasser in 25-Liter-Kanistern herbeischaffen. Das ist sehr mühsam. Deshalb möchten wir in naher Zukunft einen eigenen Brunnen bohren lassen. Für den Brunnen brauchen wir eine Solarpumpe für eine geregelte Stromzufuhr, denn der Strom fällt immer wieder für mehrere Stunden aus. Eine Dieselpumpe ist wegen der Treibstoffpreise zu teuer. Wir hoffen, diesen Brunnen mit Spendengeldern finanzieren zu können.
Was ist ihre Motivation? Warum geben Sie nicht auf?
Das, was ich tue, mache ich aus tiefer Überzeugung: Gott hat mich da hingestellt, er will, das ich mein Bestes gebe. So heißt es auch: „Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir!‟ Nach 50 Jahren Ordensleben kann ich für mich sagen, der Segen Gottes war bei mir auf Schritt und Tritt.
Bevölkerungsexplosion.
Im Gesundheitszentrum von Malweka kommen auch Kinder zur Welt. 14 Dollar muss man für eine normale Geburt aufbringen. Dafür kann man nur beten. Denn ein Kaiserschnitt kann Familien in den Ruin stürzen. Früher musste man oft Petroleumlampen bei Operationen verwenden. Der Strom fällt in Malweka und anderen Stadtteilen immer wieder aus. Seit 2012 ist eine Fotovoltaik-Anlage am Dach der Kreißsaal-Baracke, errichtet von vier Linzer HTL-Schülern.
Joseph Inganji, UN-Nothilfekoordinator im Kongo, leitet das größte OCHA-Büro der Welt. 28 Jahre Erfahrung im humanitären Bereich hat der bullige, kahlköpfige Kenianer. Seine Hilfe wird an allen Ecken und Enden gebraucht. 4,8 Millionen Binnenvertriebene zählt die UNO im Kongo sowie 150 bewaffnete Milizen, die wüten und walten, wie sie wollen; auch der Islamische Staat versucht bereits, Fuß zu fassen. Im Westen in der Provinz Mai-Ndome brachen zu Beginn des Jahres blutige ethnische Spannungen auf. Seit Dezember 2017 wird in der rohstoffreichen Provinz Ituri im äußersten Osten Kongos wieder gemordet, gebrandschatzt, entführt, vergewaltigt und verstümmelt. Allein im Juni flüchteten innerhalb von nur zwei Wochen 300.000 Menschen vor dem Horror.
Das nahe Uganda hat die Grenze geschlossen. Denn in der Gegend toben nicht nur Gefechte, sondern herrschen auch Seuchen. Vor zehn Monaten brach eine Ebola-Epidemie aus. Bisher starben mehr als 1400 Menschen an der dramatisch verlaufenden Viruserkrankung. Zudem grassieren auch die Masern, 2000 Menschen hat das ihr Leben gekostet. Und die Cholera kehrt sowieso Jahr für Jahr zurück, wenn die Regenfluten Toiletten überschwemmen und Keime ins Trinkwasser sickern.
Ein Kampf gegen die Hydra.
Es ist wie ein Kampf gegen eine Hydra. Schlägt man dem Untier einen Kopf ab, wächst der nächste nach, ein neuer Krieg, eine Seuche. Doch UN-Nothilfekoordinator Inganji gibt nicht auf. „Die Leute sterben, wenn wir ihnen nicht helfen.“ Er appelliert an die internationale Gemeinschaft, den Verpflichtungen nachzukommen. 1,65 Milliarden Dollar werden gebraucht, um Menschen im Kongo aus akuter Not zu helfen. Doch nur 17 Prozent davon sind finanziert. Die Geber sind müde nach all den Kriegen.
Mutige Kirche gegen den Staat.
Abbé Nshole ist ein mutiger Mann. Um die Jahreswende ließ der Generaldirektor der Bischofskonferenz keinen Zweifel daran, dass die Präsidentenwahl manipuliert war. Die Kirche hatte 40.000 Beobachter im Feld. Und ihnen zufolge hatte der Oppositionskandidat Martin Fayulu deutlich gewonnen. Doch der scheidende Präsident Joseph Kabila, der im Hintergrund immer noch das große Rad dreht und das Parlament kontrolliert, zog es vor, einen anderen Oppositionellen ins höchste Amt schieben zu lassen: Félix Tshisekedi, der im Wahlkampf überraschend aus der Allianz mit Fayulu ausgeschieden war. Möglicherweise hatte er schon damals einen Deal mit Kabila. Den ursprünglichen Kandidaten Kabilas auf den Schild zu heben wäre zu dreist gewesen. Angesichts des Rückstands an den Urnen. Wie lange wird sich die Bevölkerung diese Spielchen noch gefallen lassen?
„Es liegt etwas in der Luft“, sagt Abbé Nshole, der im Silvesterabkommen Kabila dazu gebracht hat, auf eine weitere Amtszeit zu verzichten. Im Gegenzug erhielt der korrupte Ex-Staatschef die Zusicherung, seinen Geschäften im Kongo weiter nachgehen zu können.
Jobs sind dünn gesät.
Es gibt kaum Industrie. Mehr als vier Fünftel der Kongolesen leben von Landwirtschaft, oft von dem, was sie selbst anbauen. Der Ertrag ist meist niedrig, das Saatgut minderwertig, die Vermarktung kaum möglich. Die Caritas hat in sechs Regionen im Kongo Programme laufen, um das Leben von insgesamt 5000 Familien dauerhaft zu verbessern.
Artikel aus „Die Presse“ (gekürzt) von Christian Ultsch